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Stefan Wenzel, 27. November 2024
Handel unter Druck: Künstliche Intelligenz und die „QVC-isierung“ von Social Media
Steht der ohnehin angeschlagene Handel vor der nächsten Stufe der Disruption? Künstliche Intelligenz (KI) und soziale Medien sind dabei, die Machtverhältnisse neu zu sortieren. Zwei Entwicklungen stechen besonders hervor: Der drohende Verlust der Beratungsdomäne und die „QVC-isierung“ von Social Media.
Große Sprachmodelle übernehmen die Beratungsdomäne
Mit dem vor wenigen Tagen gestarteten Shopping-Angebot von Perplexity AI, einer KI-gestützten Suchmaschine, betritt ein neuer Player das Feld der Konsumgüterberatung – und zwar auf eine grundlegend andere Weise als Handelsunternehmen. Anders als Händler oder E-Commerce-Plattformen ist Perplexity eine augenscheinlich neutrale Instanz, die in der Lage ist, nahezu alle verfügbaren Informationen zu einem Produkt oder einer Marke zu verarbeiten, daraus ganzheitliche Empfehlungen auch zu komplexeren Fragen zu generieren und den Check-Out in einem zu ermöglichen.
Auch wenn die User Experience derzeit noch krude erscheint, liegt das Potenzial dieser Entwicklung auf der Hand: Kunden könnten zunehmend die neutrale, umfassendere Beratung durch ein KI-System bevorzugen, das im Gegensatz zu Handelsunternehmen keine offensichtlichen Eigeninteressen verfolgt. Während der Handel in Retail Media investiert – ein Modell, das im Gegensatz dazu nicht auf Beratung, sondern auf bezahlter Produktplatzierung basiert – erweitern KI-Rechercheplattformen ihren Anwendungsbereich um Produkte und erfüllen den Anspruch an Transparenz und Objektivität, den viele Kunden bei Kaufentscheidungen suchen und integrieren diesen vertikal.
Perplexity ist erst der Anfang, weitere große Sprachmodelle und KI-basierte Plattformen werden folgen und die mögliche Disruption der Produktsuche und -beratung beschleunigen. Die Vorstellung, dass eine vermeintlich unabhängige, neutral beratende KI zum ständigen Begleiter des Kunden wird, stellt die bisherigen Wertschöpfungsketten des Handels infrage. Es geht nicht mehr nur um den Wettbewerb zwischen stationärem und digitalem Handel, sondern um eine grundlegend andere Beratungs- und Einkaufslogik. Der deutsche Handel muss sich zum einen fragen, wie er seine Beratungskompetenz und damit seinen Kundenzugang verteidigen kann, wenn Tools wie Perplexity Shopping zunehmend in der Lage sind, per Mausklick umfassendere und unabhängige Empfehlungen zu geben. Zum anderen müssen Händler sicherstellen, dass ihre Produkte in den KI-Modellen enthalten und für möglichst relevant befunden werden. Während in den Anfangsjahren des Online-Handels Suchmaschinenoptimierung (SEO) von großer Bedeutung war, stehen nun Themen wie Large Language Model Optimization (LLMO), Generative Engine Optimization (GEO) oder Generative AI Optimization (GAO) auf der Agenda.
Die „QVC-isierung“ von Social Media
Plattformen wie TikTok, Instagram und YouTube binden längst einen erheblichen Teil der verfügbaren Aufmerksamkeitszeit der Menschen – und zwar mit KI-gestützten, hoch personalisierten Inhalten. Diese Inhalte sind nicht nur Unterhaltung, sondern auch die perfekte Bühne für den sogenannten Discovery Commerce, bei dem Kunden impulsgesteuert Produkte entdecken, ohne aktiv danach zu suchen. Die „QVC-isierung“ von Social Media dürfte eines der großen Themen für 2025 werden.
TikTok Shop ist das Paradebeispiel: Die Integration des Handels in die Entertainment-Plattform ist die logische Konsequenz aus der permanenten Verfügbarkeit von Kundendaten und deren Nutzung zur Personalisierung von Inhalten. Der deutsche Handel, der lange darauf gesetzt hat, Kunden über Werbung oder Punkteprogramme zu erreichen, steht nun vor der Herausforderung, dass der eigentliche Kundenzugang immer stärker von sozialen Plattformen kontrolliert wird. Der Wettbewerbsvorteil der Plattformen ist durch ihre Reichweite und Nutzungstiefe erheblich und Lösungen, Handelsfunktionen nahtlos und ohne Medienbrüche in die User-Experience zu integrieren, entstehen aktuell.
Alibabas Taobao Live zeigt mit seinen KI-basierten Livestreaming-Technologien, wohin die Reise geht. Virtuelle Moderatoren präsentieren Produkte, reagieren in Echtzeit auf Kundenfragen und passen die Präsentation individuell an - eine Verschmelzung von Beratung und Unterhaltung, die jederzeit verfügbar ist. Das Ergebnis ist ein Einkaufserlebnis, das dem analogen Shopping ähnelt, aber durch die Flexibilität und Reichweite des digitalen Handels ergänzt wird. Virtuelle Moderatoren und KI-generierte Influencer sorgen dabei für wirtschaftliche Skalierbarkeit und ersetzen schon heute erfolgreich den Menschen vor der Kamera.
Was bedeutet dies für den deutschen Einzelhandel?
Nach einem Wachstum von +3,5% im Juli hat der Handelsverband Deutschland (HDE) im November seine Wachstumsprognose für 2024 auf nominal +1,3% angepasst, was preisbereinigt einer roten Null entspricht. Zudem schätzt der HDE, dass allein in diesem Jahr weitere 5.000 Geschäfte schließen werden.
Der deutsche Handel ist im Umbruch, neue Ansätze sind gefragt, um in der Gemengelage eines nicht zu gewinnenden Preiskampfes mit asiatischen Billiganbietern, der Disruption der Discovery-Phase durch KI und damit dem drohenden Verlust des eigenen Kundenzugangs auf der einen Seite und einer gedämpften Kauflaune und völlig anderen Erwartungen der immer digitaleren Kunden an Handel und Entertainment auf der anderen Seite zu bestehen.
Der Verlust der Beratungsdomäne und des Kundenzugangs sind nicht nur technologische Herausforderungen, sondern auch Fragen der strategischen Ausrichtung. Handelsunternehmen müssen sich fragen, wie sie ihre Rolle in einem zunehmend von KI und einer neuen Plattformökonomie geprägten Markt neu definieren. Es wird nicht ausreichen, Retail Media als zusätzliche Erlösquelle auszubauen, wenn der direkte Zugang zum Kunden verloren geht.
Gleichzeitig muss sich der Handel darauf einstellen, dass das Einkaufen immer weniger ausschließlich in den Shop-Domains stattfindet, sondern sich zunehmend auf andere Orte verteilt. Dies hat weitreichende Implikationen für das Geschäftsmodell und insbesondere für den Hoffnungsträger Retail Media, der darauf basiert, dass die Kunden die Plattformen der Händler besuchen.
Für den Handel wird es darauf ankommen, die Spielregeln der neuen Plattformökonomie zu verstehen und sich aktiv in diese zu integrieren, gleichzeitig aber auch neue Modelle zu entwickeln, um langfristig unabhängiger zu bleiben und den direkten Kundenzugang zu sichern.
Durch die Entwicklung hyperpersonalisierter Angebote und wirklich relevanter Kundenbindungsprogramme, die über die Möglichkeiten der neuen Plattformen hinausgehen, können Händler neue „Burggräben“ bauen. Echte Relevanz und Sichtbarkeit sind zugleich Lackmustest und Achillesferse. Eine Taktik könnte auch darin bestehen, selbst KI-basierte, neutralere Beratungsleistungen zu entwickeln und diese mit dem bestehenden Handelsangebot zu verknüpfen – eine hybride Lösung, die die Stärken des Handels mit den Möglichkeiten und der Neutralität von KI verbindet und dann aber in einer attraktiven, neu gedachten User-Experience für den Smartphone-dominierten Handel verpackt wird. So erfreulich die ersten Gehversuche von Amazon (“Rufus”) oder Zalando (“Fashion Assistant”, “Style It”) sind, so zeigen sie, wie lang der Weg zu wertstiftenden KI-Anwendungen aus dem Handel heraus noch ist.
Dass Händler sich als Marke verstehen und damit emotionale Mehrwerte jenseits von Preis und Verfügbarkeit bieten können, entspricht nicht der Genese und DNA der einkaufs- und logistikgeprägten deutschen Handelsbranche, ist aber ein neuer Lösungsraum. Anspruchsvoll und mit Fallhöhe, aber vielleicht für einige der verbleibende Weg, weil sie über rationale Mehrwerte nicht wettbewerbsfähig genug sind. Ein Blick auf Händler wie Kith des Amerikaners Ronnie Fieg zeigt, wie Differenzierung als Händler aussehen kann.
Wie wichtig das im Handel wenig diskutierte Thema Differenzierung - in einem Markt mit viel austauschbarem Angebot - ist und wie wenig differenziert deutsche Händler aber von den Kunden wahrgenommen wird, zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie von Kantar und Google für den Modemarkt. Die Studie quantifiziert zum einen, dass nur ein Drittel der Händler als differenzierend wahrgenommen wird und sie zeigt auf, dass weder Technologie noch Fulfillment-Leistung geeignet sind, das zu verbessern. Beides waren in den letzten 20 Jahren Investitionsschwerpunkte des Handels.
Der Handel muss daher umdenken und handeln, um auch in einer von KI und neuen Plattformen geprägten Zukunft eine wertschöpfende Rolle in der Kundenbeziehung und im Kaufprozess zu spielen. Aus den Versäumnissen der Digitalisierung kann man dabei lernen: Veränderungen als Chance verstehen, agieren, statt hadern und Geschwindigkeit höher priorisieren als vermeintliche Perfektion.
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